An der Beerdigung ihrer Mutter weinte sie nicht

Biel Mit 19 Jahren verlor Sarah Röthlisberger ihre Mutter. Von allen Seiten wurde ihr Hilfe angeboten. Doch Sarah trauerte anders, als man es von ihr erwartet hatte.

Sarah Röthlisbergerredet über ihre verstorbene Mutter, weil es ihr hilft, den Verlust zu verarbeiten.

Text, Bilder und Audio: Hannah Frei

Sarah Röthlisbergers beste Freundin war damals anders als die anderen. Mit ihr konnte Sarah lachen – auch über ihre tote Mutter. Darüber, dass sie während der letzten Chemotherapie für Sarah manchmal aussah wie Voldemort. Blass und kahl. «Das war halt so, Entschuldigung», sagt Sarah in dem Wissen, sich dafür eigentlich nicht entschuldigen zu müssen. Sie tut es nur aus Rücksicht vor denen, für die der Tod unantastbar ist, etwas, über das man sich unter keinen Umständen lustig machen darf.

«Wir haben bis zum Schluss zusammen
gelacht.»

Sarah Röthlisberger über die Zeit kurz bevor ihre Mutter verstarb.

Den Vergleich mit dem bösen Magier aus der Harry-Potter-Saga hat sie damals auch im Krankenhaus vor ihrer Mutter gemacht, obwohl diese bis zum Schluss darum bemüht gewesen war, gestylt und schön auszusehen. Aber sie hat ihr diese Witze nie übel genommen, im Gegenteil. «Wir haben bis zum Schluss zusammen gelacht», sagt Sarah.

Im Wissen, bald Abschied nehmen zu müssen, sollte die Trauer bei den letzten Begegnungen nicht im Vordergrund stehen, auch wenn Sarah dies nicht immer leichtfiel. Die innere Trauer nach aussen tragen wollte Sarah auch kurz nach dem Tod ihrer Mutter nicht – und sie will es auch heute nicht. Zumindest nicht andauernd. Über den Tod sprechen möchte Sarah hingegen schon, auch mit Menschen, die sie kaum kennt. Das erste Treffen findet in einem Bieler Restaurant statt. Sarah erscheint, lächelt, grüsst freundlich, bestellte ein Bier und beginnt zu erzählen. Und zwar mit einer Selbstverständlichkeit, als würde sie über Belangloses aus ihrem Arbeitstag berichten.

Dabei ist ihr lediglich die Umgebung vertraut, Sarah wohnt gleich neben diesem Restaurant in der Nähe des Bahnhofs. Alles andere kennt sie nicht. Nicht die Liebespaare, die an den Nachbarstischen hungrig auf ihr Essen warten. Nicht den Kellner, der die Stange und das Glas Pinot Gris serviert. Nicht ihr Gegenüber. Davon lässt sich Sarah jedoch nicht beirren. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, spricht völlig offen und doch bedacht, über das Sterben, über das Vergängliche, über den Verlust.

Sarah hegt keinerlei Misstrauen, erzählt einfach drauf los. Unerwartet. Das ist für viele auch ihr Verhalten kurz nach dem Tod ihrer Mutter gewesen. Sie weinte nicht in den Momenten, in denen man es erwartet hätte. Sie redete in Momenten, in denen man Schweigen erwartet hätte. Sie handelte aus dem Bauch heraus, genau so, wie sie auch erzählt. Verständnis dafür hätten jedoch längst nicht alle gehabt, sagt Sarah.

Eine junge Frau muss doch weinen, wenn ihre Mutter stirbt. Trifft dies nicht zu, kann die Eltern-Kind-Beziehung wohl nicht allzu intensiv gewesen sein, so die Vorstellungen. Sarah erfüllt diese nicht, obwohl die Beziehung zu ihrer Mutter gut gewesen sei. Sie bezeichnet sich zwar als «Papi-Kind». Mit ihrer Mutter hat sie trotzdem viel gemein. Heute ist sie 24 Jahre alt, aufgestellt, wissbegierig, bodenständig. Sie arbeitet als Kauffrau bei einem Seeländer Grosshändler, spielt Posaune in einer Guggenmusik, steht mit beiden Beinen im Leben. Und sie glaubt nur an das, was sie sehen und greifen kann. Daran hat sich auch durch den Tod ihrer Mutter nichts geändert.

Und Sarah ist mutig. Sie scheut sich nicht, über ein Thema zu sprechen, an das die meisten lieber nicht einmal denken wollen: den Tod. Sarahs Mut ist wertvoll, sagt die Sozialarbeiterin Simone Buchmüller. Sie arbeitet als psychoonkologische Beraterin und Trauerbegleiterin bei der Bernischen Krebsliga und leitet zusammen mit anderen Fachpersonen einmal monatlich das Trauercafé im Berner Generationenhaus:

«Sterben ist immer noch ein Tabu in unserer Gesellschaft. Wir haben verlernt, den Tod als Teil unseres Lebens wahrzunehmen. Wenn man stets nach dem Absoluten strebt, bezahlt man einen hohen Preis. Denn das Absolute gibt es nicht. Vergänglichkeit gehört zum Leben. Und wenn man sich gar nicht darauf vorbereitet, kann es für die Betroffenen und ihre Angehörigen ganz schwierig werden. Dann kann es einem wie eine Lawine treffen. Wir sollten über den Tod genauso natürlich sprechen dürfen wie über die Geburt und das Leben selbst.»

Simone Buchmüller, Bernische Krebsliga

Sarah möchte nicht gesiezt werden. Das sei doch schräg, wenn sich zwei junge Frauen auf ein Gespräch treffen. Das war das erste, das sie auf die Interviewanfrage antwortete. Für alles andere sei sie offen.

«Wenn ich mit meiner Geschichte jemandem helfen kann, erzähle ich sie gerne.»

Sarah Röthlisberger

«Wenn ich mit meiner Geschichte jemandem helfen kann, erzähle ich sie gerne.» Über den Tod ihrer Mutter würden ohnehin all ihre Freunde Bescheid wissen, sie habe oft mit ihnen darüber geredet, Antworten auf neugierige Fragen geliefert. Nicht, um Mitleid zu erhalten, sagt Sarah, sondern weil es ihr gutgetan habe.

Das sei sicherlich nicht bei allen so. «Aber mir hat es geholfen», sagt sie. Und vielleicht helfe es ihr auch heute, die Geschichte nochmals von Anfang an zu erzählen. Wo sie erzählt, spielt für sie keine Rolle. Zuerst in besagtem Restaurant, dann bei sich zuhause, und zwei Wochen später bei einem Spaziergang am See.

Sarahs Mutter ist eine von 7690 Frauen, die 2015 in der Schweiz an Krebs gestorben sind. Die häufigste Todesursache bei Frauen zwischen 25 und 84 Jahren. Bei Sarahs Mutter verlief dies so: Krebs, Angst, Chemotherapie, Hoffnung, Stabilisierung, Erleichterung, neue Krebszellen, Frust, Metastasen – Tod. 15 Jahre kurz zusammengefasst. Sarah fasst sich hingegen nicht kurz.

Wenn sie über ihre Mutter spricht, beginnen ihre Augen zu leuchten. Es ist ein schönes, warmes Leuchten, das zeigt, wie gerne sich Sarah an sie erinnert. Ob bewusst oder nicht, Sarah schafft es, das Traurige in den Hintergrund zu stellen, auch dann, wenn sie über besonders schwierige Momente spricht. Und davon gab es viele. «Solche, in denen ich meine Mutter einfach sehr vermisste.» Zum Beispiel damals, als sie nach dem zweiten Lehrjahr erfuhr, dass sie Englisch bestanden hatte. Die Freundinnen riefen ihre Mütter an. Sarah hingegen wusste nicht, wen sie hätte anrufen sollen. Sie brach in Tränen aus – und brauchte eine Weile, bis sie sich wieder beruhigen konnte.

Sarah fand eine neue Freundin

Als ihre Mutter starb, war Sarah 19 Jahre alt. Das war der Moment, als sie und die besagte Freundin zu besten Freundinnen wurden, auch wenn Sarah das nie gesagt hätte. Das sei irgendwie nicht nötig gewesen. Bis zum Tod ihrer Mutter hatten die beiden kaum Kontakt. Erst danach habe sich diese Freundin bei ihr gemeldet, ihr gesagt, dass es ihr leidtue. Sarahs Mutter hat sie nie kennengelernt. Woher sie vom Tod erfuhr, weiss Sarah nicht. «Sie war einfach plötzlich da, aus dem Nichts.»

Die beiden fingen an, sich regelmässig zu treffen, arbeiteten an den Wochenenden gemeinsam bei einem Catering und verbrachten die Nächte zusammen im Ausgang. Bei ihr fühlte sich Sarah wohl. «Sie hat mich nie als Häufchen Elend betrachtet.» Das hat ihr ein Stückchen Normalität und damit Halt gegeben. Für andere aus ihrem Umfeld hat sie das Trauerkleid hingegen bis heute nicht ablegen können.

Sarah Röthlisberger über die Reaktion ihrer damaligen besten Freundin auf den Tod ihrer Mutter

Sarah nennt es Mitleid, nicht Mitgefühl. Keine Hilfe, sondern eine Belastung. Ein Druck, der auf ihr lastete und sie verunsicherte. Klar sei sie traurig gewesen, aber nicht andauernd, sie wollte vorwärtsschauen, arbeiten, selbständig werden. Und dafür hat sie sich ein Umfeld gesucht, das sie dabei unterstützt – nicht nur beim traurig sein. An der Beerdigung hat Sarah kaum geweint. Es wäre ja nicht so gewesen, dass sie es nicht gewollt hätte. Aber die Tränen sind einfach nicht gekommen. Vielleicht, weil sie zuvor genug geweint hatte. Vielleicht, weil sie bei der Beerdigung lieber an das Schöne zurückdenken wollte. Vielleicht, weil der aufgestellte Pfarrer Sarah ab und zu zum Lachen brachte. Für Sarah hat das gepasst. «Und meiner Mutter hätte dies auch gefallen.» Aber Sarah spürte, dass dies nicht alle so sahen. Die Blicke der Anderen fühlten sich an wie Nadeln, die sich in sie bohrten.

«Trauern ist etwas Persönliches und Individuelles. Es darf kein Messen geben, keine Erwartungen an das Trauern. Doch in unserer Gesellschaft gibt es diese Normen des Trauerns. Werden die Trauernden in ein Schema gedrängt, kann eine zusätzliche Belastung entstehen. Das kann verletzend sein, Schamgefühle auslösen oder dazu führen, dass sich die Betroffenen zurückziehen.»

Simone Buchmüller, Bernische Krebsliga

Ein halbes Jahr nach dem Tod ihrer Mutter wurde es still. Nachgefragt hat kaum einer mehr.

Die Versuche, Sarah aufzufangen

Sarah will niemandem einen Vorwurf machen. Die Reaktionen seien schliesslich von allen nett gemeint gewesen. Und viele Freunde und Bekannte hätten auch gut reagiert, ihr das Gefühl gegeben, für sie da zu sein, ohne aufdringlich zu werden. Jedoch blieben ihr die für sie unpassenden Reaktionen gut in Erinnerung. Die Menschen, die sich nicht getraut haben, sie nach ihren Bedürfnissen zu fragen, sondern einfach unbeholfen handelten. «Vielleicht hatten die Leute in meinem Umfeld die Hoffnung, ein Netz für mich sein zu können. Jemand, der mich auffängt.» Für Sarah kamen diese Hilfeversuche völlig unverhofft. Sie seien nicht alltagstauglich gewesen. Manchmal sogar heuchlerisch. Als würde man etwas erzwingen, was nicht da ist.

Dann, wenn Sarah das Gefühl hatte, die Menschen würden sich nur aufgrund des Schicksalsschlags bei ihr melden. Bekannte der Mutter, ferne Verwandte. Sie hätten ihr das Gefühl geben wollen, umsorgt zu sein. Sarah erzählt das nicht wütend. Doch ist sie sichtlich genervt. Sie gibt sich zwar Mühe, Verständnis für solche Reaktionen aufzubringen. Doch das gelingt ihr im Gespräch nicht immer. Vielleicht auch, weil die Unsicherheit der anderen auch sie selbst verunsicherte. Sarah schüttelt den Kopf, sammelt sich kurz, und fährt dann freundlich fort. Sie freue sich sehr für all diejenigen, die ein solches Netz gehabt hätten. Ihr sei es aber nicht so schlecht gegangen, dass sie dieses Netz um jeden Preis gebraucht hätte.

Was sich Sarah gewünscht hätte

Was hätte Sarah denn von ihrem Umfeld erwartet? Sie überlegt. Es sei schwierig, ein Mittelmass zwischen Aufdringlichkeit und Zurückhaltung zu finden, das für die nahen Angehörigen passt. Das war Sarahs erste Antwort, beim ersten Treffen. Es fällt ihr sichtlich schwer, zu sagen, was sie denn gebraucht hätte. Die einen Reaktionen hätten halt gepasst, andere überhaupt nicht. Bis dahin hatte sich Sarah wohl nie wirklich mit dieser Frage auseinandergesetzt. Bis zum zweiten Treffen zwei Wochen später bei sich zuhause hat sie es jedoch getan: Begegnungen mit Menschen, die nicht über den Tod sprechen können, ob über den ihrer Mutter oder allgemein, seien für sie unangenehm gewesen – und sind es auch heute noch. Auf der anderen Seite findet sie es auch schräg, wenn ihr jemand andauernd seine Hilfe anbietet, zu dem sie kaum Kontakt hat.

Sarah Röthlisberger über die Angst der Anderen, etwas Falsches zu sagen.

«Wer ehrlich ist, kann fast nichts Falsches
sagen.»

Sarah Röthlisberger

Die Unsicherheit im Umgang mit dem Tod und der Trauer hemme sie. Es sei auch an den Betroffenen selbst, sich an der Nase zu nehmen und Klarheit zu schaffen. Zum Beispiel schon nur, indem sie die rhetorischen Fragen ehrlich beantworten. Halt sagen, wenn es einem nicht gut geht und weshalb. Oder aber erklären, weshalb man gerade nicht darüber sprechen möchte. «Ehrlichkeit ist das Wichtigste», sagt Sarah. Über die Unsicherheit sprechen, sagen, was einem schwerfällt. Und dabei keine Angst haben, etwas Falsches zu sagen. «Wer ehrlich ist und sich selbst nichts vormacht, kann fast nichts Falsches sagen.»

«Ich als Trauerbegleiterin zeige Möglichkeiten der Hilfe auf, ohne zu werten. Schliesslich kann für einen selbst etwas passen, was für den anderen gar nicht stimmt. Das Wichtigste für die Betroffenen ist, dass sie wissen, dass es Menschen gibt, die hinter ihnen stehen und sie begleiten. Auch wenn sie denken, dass sie diese Unterstützung nicht brauchen. Es hilft, zu wissen, dass jemand da ist. Die Nahestehenden der Trauernden sollen dranbleiben und immer wieder nachfragen, ob Unterstützung gewünscht ist. Denn ich höre oft, dass den Betroffenen anfangs von allen Seiten her Hilfe angeboten wird, sie diese aber ablehnen. Und später, wenn sie die Hilfe benötigen würden, fragt keiner mehr nach.»

Simone Buchmüller, Bernische Krebsliga

Sarah wollte keine professionelle Trauerbegleitung, keine Hilfe von Psychologen oder Ärzten. Sie brauchte einfach Zeit. Zeit und Ablenkung. Und Menschen, die ihr den Rücken stärkten, wenn sie traurig war. Sarah erzählt jedoch nicht nur von sich. Immer wieder erwähnt sie ihren Vater und ihren Bruder Dario. Es beschäftigt sie sichtlich, wie die beiden wohl getrauert haben und inwiefern sie sie im Trauerprozess hätte unterstützen können. Anders als Sarah hätten beide nicht oft darüber gesprochen. «Dario», sagte sie, «konnte weniger gut mit dem Tod unserer Mutter umgehen als ich.» Er ist vier Jahre älter, ein «Mami-Kind».

Das Umfeld sei davon ausgegangen, dass er als älterer Bruder weniger Hilfe benötigt als sie. Schon nur, weil er ein Mann ist. Dabei gebe es doch keine Hierarchie des Trauerns. Vielmehr gehe es um den ganz persönlichen Weg, Abschied zu nehmen. «Der Tod gehört zum Leben. Es hilft, wenn man sich dem stets bewusst ist.»

Sarah zog aus ihrem Elternhaus

Für Sarah ist in den vergangenen fünf Jahren vieles einfacher geworden, manches schneller, anderes langsamer. Ein halbes Jahr nach dem Tod ihrer Mutter zog sie aus ihrem Elternhaus in Lengnau aus, zu ihrer Freundin.

In ihrem Elternhaus fühlte sich Sarah nach dem Tod ihrer Mutter nicht mehr zuhause. «Dort war alles Mami.»

In Lengnau fühlte sie sich nicht mehr zuhause. «Dort war alles Mami», sagt Sarah.

Ihre Mutter hat immer alles schön dekoriert, bis ins letzte Detail. In jeder Ecke sei sie noch zu spüren gewesen. Erinnerungen, die Sarah traurig machten. Mit dem Auszug ist ihr Elternhaus für sie jedoch wieder heimeliger geworden. «Ich glaube, dass ich diesen Schritt machen musste. Wäre ich zuhause geblieben, wäre ich wohl dort versauert.» Durch die gewonnene Distanz war in ihrem Elternhaus nicht mehr nur Trauer, sondern Schönes, Gewohntes.

Und das, obwohl sich im Haus kaum etwas verändert hat. Einzig: Sarahs Mutter hat immer alles unzählige Male geflickt. Ihr Vater ersetzt hingegen Dinge auch manchmal. Aber nur dann, wenn die Sachen für die Mutter keinen grossen Wert gehabt haben. Ihm sei es wichtig, dass nicht alles verschwindet, was an sie erinnert, sagt Sarah.

Er hat sie stets umsorgt, ihr den Rücken gestärkt. Wie es ihm nach dem Tod seiner Frau ging, ist für Sarah schwer zu sagen. «Er ist kein Mann der grossen Worte.» Mit dem Auszug aus dem Elternhaus zogen sich auch die helfenden Stimmen zurück. Plötzlich sei es still geworden, als wäre die Trauerzeit nun vorüber. Doch das war sie nicht. Nicht für Sarah, nicht für ihren Bruder, nicht für den Vater, nicht für ihre Grosseltern.

«Die Trauer kennt keine Zeit. In unserer Gesellschaft wird dies aber anders wahrgenommen. Wir gehen von Fristen aus. Drei Monate im Jammertal sind in Ordnung, aber danach sollte es dann bald einmal besser werden und die Hinterbliebenen sollen wieder funktionieren. Dies ist jedoch nicht die Realität. Die Gesellschaft sieht die Trauer wie eine Krankheit, die man heilen kann, gegen die es Pillen gibt und die irgendwann vorübergeht. Aber das funktioniert nicht.»

Simone Buchmüller, Bernische Krebsliga

In Sarahs restlichem Umfeld ist der Tod ihrer Mutter heute hingegen kaum mehr ein Thema. Nur dann, wenn es unter Freundinnen beispielsweise darum geht, wer von ihren Müttern am besten kochen würde. «Ich sage dann immer: Meine Mutter sicher nicht.» Diese Reaktion überrascht. Was will Sarah damit sagen? Soll man nun über ihre Mutter sprechen? Oder eben gerade nicht? Für Sarah ist diese Aussage lediglich ein Witz. Ein Witz, der sie die Verbindung zu ihrer Mutter spüren lässt.

Den Sorgenfresserhat Sarah von ihrer Mutter bekommen. Darin bewahrt sie ein Taschentuch auf, mit dem sich ihre Mutter damals im Spital die Tränen trocknete.

Kleinigkeiten berühren Sarah

Mit ihrer damaligen besten Freundin hat Sarah heute kaum mehr Kontakt. Über ihre Mutter spricht Sarah heute noch ab und zu mit ihrem jetzigen Freund Rony. Manchmal sind es Kleinigkeiten, die sie emotional sehr berühren – und manchmal eben nicht.

Wie vor einigen Wochen an Ronys Geburtstag. Bei seinen Eltern zuhause wurde gefeiert, mit Freunden und der Familie. Das Lied «Always look on the bright side of life» wurde abgespielt. Ein fröhliches Lied, ein gemütliches Lied. Eines der Lieder, das an der Beerdigung ihrer Mutter lief. Den Titel hat sich Sarah auf den Unterarm tätowieren lassen. Als Rony das Lied hörte, ist er aufgesprungen, «wie von einer Biene gestochen», und hat verlangt, die Musik sofort zu wechseln. Er habe Sarah schützen und keine traurigen Erinnerungen hervorrufen wollen. Doch an diesem Fest, in diesem Moment habe sie das Lied überhaupt nicht traurig gemacht. Es sei ein solch fröhlicher Tag gewesen. «Da wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, traurig zu werden.»

Sarah Röthlisberger findet es wichtig, dass man auch Jahre nach einem Verlust noch weinen darf.

Die Tränen kommen Sarah in Momenten, in denen sie es nicht erwarten würde. Das letzte Mal beim Autofahren. Ein Sonnenstrahl drückte sich durch die dichte Wolkendecke. Sarah sah sofort ihre Mutter vor sich – obwohl sie mit Spirituellem eigentlich nichts anfangen kann. Eine Träne folgte der anderen.

Aber es sei kein trauriger Moment gewesen, sondern einfach ein besonders emotionaler. «Solche Momente zeigen, dass wir leben», sagt Sarah. Mit dem Trauerprozess abgeschlossen hat sie nicht. Sie findet es wichtig, dass man auch nach 50 Jahren noch trauern darf, noch weinen darf.

Vieles erinnert Sarah an ihre Mutter, Ereignisse, Momente, Gegenstände. So auch der Sorgenfresser, den sie von ihrer Mutter hat. Reissverschluss auf, Sorgen rein, Reissverschluss zu. Lösungsorientiert, wie es auch Sarah ist. Der Sorgenfresser hat keinen Namen, dafür aber sichtbaren Inhalt. Sarah bewahrt ein Taschentuch darin auf, mit dem sich ihre Mutter damals im Spital die Tränen trocknete.

Wenn Sarah Röthlisberger an ihre Mutter denkt.

Wenn Sarah heute an ihre Mutter denkt, vermisst sie am meisten ihr Lachen. «Weil sie es nie verloren hat, egal wie viele Medikamente sie nehmen musste und egal wie schlecht es ihr ging.» Sarah rinnt zum ersten Mal eine Träne über die Wange, beim zweiten Treffen bei sich zuhause auf dem Sofa. Eigentlich habe sie doch nicht weinen wollen, sagt sie ein wenig verlegen. Viele würden in ihr ihre Mutter sehen, und das sei für sie einfach nur schön: das Fröhliche, das Strahlende. Sarah reibt sich die Tränen aus den Augen und sagt: «Die Trauer ist halt etwas Unberechenbares.»